Der Vohwinkel Fuchs
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Luftangriffe

Wilhelm Gauger, der bis 1962 auf der Tesche gewohnt hatte und zur damaligen Zeit ein Kind von etwa 12 Jahren war, berichtete mir in einem Brief vom 24.4.1988 sehr eindrucksvoll seine persönlichen Erinnerungen an dieses schreckliche Ereignis:

Der 1. Januar 1945, an dem ein Luftangriff auf Vohwinkel abends stattfand, von dem es hieß, er habe Vohwinkel wohl gar nicht einmal gelten sollen, sondern sei unglücklicherweise von einer Scheinwerferstellung (es stand irgendwann im Kriege eine auf der Höhe der Tesche, etwa gegenüber dem Bauern Pfankuchen) hergelockt worden, war für mich ein regelrechter Einschnitt. Mein Vater war beim Militär; am 2. Weihnachtsfeiertag 1944 war ganz klares, helles Wetter, fast wolkenfrei, und englische oder amerikanische Flugzeuge zogen stundenlang über dem Himmel südlich von Vohwinkel ein Netz von Linien von Kondensstreifen, am hellen Tage. Damals fürchteten wir alle schon Schlimmes.

 

 

Ob der Angriff vom 1.1.1945 damit zusammenhing oder nicht, weiß ich nicht. Der Angriff wurde später in der Presse heruntergespielt. Tatsächlich dauerte er etwa eine Stunde. Meine Mutter hatte - große kulinarische Kostbarkeit in der Zeit - für das Abendessen eine Creme aus Apfelwein gemacht, auf die wir uns freuten. Dazu kam es nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, ob der Angriff zwischen 20 und 21 Uhr oder später war, jedenfalls wurde nichts mehr aus dem Abendessen, auf das wir uns so gefreut hatten. Wir - meine Mutter, meine damals 3-jährige jüngste Schwester und ich (12 Jahre) - lagen während der Bombeneinschläge im Keller auf dem Boden, und meine Mutter betete ununterbrochen:

Jesus, der du Jesus heißt,
deine Jesus-Kraft beweis,
eine Mauer um uns baue,
daß dem Feind davor graue,
er mit Zittern sie anschaue ...

Derweil krachten die Bomben immer enger und ohrenbetäubender ums Haus. Wir wohnten in der Bahnstraße 43, das Haus steht noch. Das Licht ging aus. Ein Einschlag in nächster Nähe brachte alles zum Wanken. Wir waren in höchster Angst. Als wir wieder ins Freie kamen, waren wir erstaunt, daß das Haus noch stand. Wenige Meter davon entfernt war ein ungeheuerlicher Bombentrichter an der Stelle, wo der Montageschuppen der Firma Steeger gewesen war. Da das Haus mit seinem Oberstock regelrecht wie eine Brücke über den Schuppen gebaut war, war der Luftdruck einfach darunter hergegangen. Er hatte überall das Linoleum vom Boden abgehoben, so daß es in Wellen lag; das Radio spielte noch, obwohl die Lichtleitung zum Keller zerstört war, aber das Deckchen, das unter dem Radio lag, war fortgeweht. Der Luftdruck mußte das Radio hochgehoben und wieder abgesetzt haben.

 

Die Apfelweincreme war voller Glasscherben, Marmeladengläser (wir hatten einen Garten!) standen noch, aber die Marmelade war überall an die Decke verspritzt. (Tornados müssen ähnliche bizarre Verwüstungen anrichten.) Der gründerzeitliche Wohnzimmerschrank meiner Großmutter war offen; am meisten schmerzte mich der Anblick von herumgestreuter Schokolade, einer ungeheuren Seltenheit, die meine Großmutter darin versteckt hatte, um uns später vielleicht einmal ein Eckchen davon zu geben. Das hat mich jahrelang verfolgt - wie das Wohlgemeinte, das Sorgliche, das liebevoll für andere (und warum nicht auch einen selbst) Abgesparte so brutal herumgestreut war, so auch die Weincreme - die Mühe meiner Mutter, etwas, auf das wir uns alle so gefreut hatten - das alles war umsonst gewesen.

Die eine Hälfte des untersten der "Bahnhäuser" (gegenüber der Wirtschaft Schnieders) brannte lichterloh. Später erfuhr man, das sei nicht auf eine Bombe zurückzuführen, sondern ein Herd sei umgekippt gewesen oder Kohlen seien aus der Glut gefallen. Schräg uns gegenüber hatte ein Volltreffer das Haus Bahnstraße 60 völlig zerstört, 17 Menschen (darunter Verwandte von uns) waren mit einem Schlag umgekommen. Im Haus daneben kamen andere um. Man schleppte Tote und Sterbende in unseren Hausflur. Emil Tappenbeck war schon da, war unentwegt unterwegs, um zu helfen. Er war wirklich groß. Fabelhaft auf dem Posten war auch Herr Hainbach, der Klempner, dessen Haus nördlich an die Firma Steeger und unseren Garten angrenzte. Großartig war dessen ruhige Überlegenheit. Auf allerlei Gängen, zu denen meine Mutter mich schickte, mußte ich im Dunkeln oder beim Kerzenlicht, wenn ich in den Keller sollte, über die Verletzten im Hausflur hinwegsteigen.

Dann brachte meine Mutter meine Schwester und mich angekleidet ins Bett. In der Nacht kam mein Onkel, Pfarrer Hans Trummel, von Beyenburg (er war früher Pfarrer in Vohwinkel gewesen). Er hatte sich zu Fuß auf den Weg gemacht. Er sprach mit meiner Mutter im Nebenzimmer, und er überredete sie, ihm meine Schwester und mich zu übergeben, damit wir in Beyenburg in Sicherheit seien. Das war für mich das schlimmste an dem Tag. Daß alles zerrissen wurde, was angefangen war, was eine Spur von Bestand zu haben schien. Kinder reagieren ganz anders als Erwachsene. Der Bombenhagel - das war fast genauso sensationell wie es grauenhaft war. Es hat bei mir keinerlei Schock oder Angst hinterlassen. Mir den Weg durch Verletzte und Sterbende zu bahnen, das war auch aufregend. Aber daß wir nun fort sollten, daß angefangene Spiele, daß die herrlichen Weihnachtsferien, daß die Möglichkeit, am nächsten Tag mit Freunden über alles zu sprechen, daß die ganze häusliche Atmosphäre mit einem Schlag enden sollten, das machte mir richtige Panik. Viele Tage weigerte ich mich dann in Beyenburg, auch nur den Mantel auszuziehen, wenn ich zu Bett ging. Meine Mutter, die in Vohwinkel geblieben war (sie kam später nach), hatte mir den Mantel noch angezogen; ihn abzulegen war für mich wie ein Verrat, wie der Verlust vom Letzten, was in der Welt für mich noch an Geborgenheit war."

 

Gauger deutete in seinem sehr anschaulichen und spannenden Bericht an, daß der Luftangriff vom 1.1.1945 eventuell noch nicht einmal Vohwinkel gegolten habe. Vielleicht wäre der westliche Stadtteil Wuppertals verschont geblieben, wenn nicht die Scheinwerferstellung auf der Tesche gestanden hätte. Aus dieser lebendigen Schilderung der vielen Details, die Gauger auch noch 43 Jahre später deutlich vor Augen hatte, kann man gut erkennen, wie stark die Verwüstungen gewesen sein müssen und welche - für die Nachkriegsgeneration - kaum vorstellbaren Nöte diese Bombenabwürfe mit sich gebracht hatten.

Gaugers persönlicher Erlebnisbericht veranschaulicht auch die Ängste der Menschen, die offenbar ahnungslos gewesen waren, ihre Panik und ihre Hilflosigkeit, mit dem plötzlichen Tod von Angehörigen und Nachbarn fertig zu werden. Diese Schilderung macht betroffen, wenn man liest, wie dieser Krieg Familien zerriß und von einer Minute auf die andere Gemeinschaften zerstörte.

 

Rektor i.R. Storch schrieb über jenen Fliegerangriff zur Jahreswende 1944 / 1945, daß Vohwinkel 97 Tote, 200 Verwundete und 185 Verschüttete zu beklagen habe. Die meisten Opfer hätten auf der Tesche gewohnt. Auch das evangelische Gemeindehaus sei sehr stark beschädigt, ebenso die Vohwinkeler Kirche, deren Turm und Mauerwerk stark in Mitleidenschaft gezogen seien. Alle Fenster seien zerborsten. Außerdem sei der Tescher Kindergarten durch die Fliegerangriffe zerstört.

Storch berichtete, daß in der Nähe des Kindergartens Klopfzeichen von Eingeschlossenen vernommen worden seien. Pastor Tappenbeck, der vom Reichsluftschutzbund zum Feuerwehrmann ausgebildet war, habe die Luftschutzpolizei gebeten, doch endlich Maßnahmen für ihre Befreiung zu treffen. Es sei dann auch gelungen, zwei Eingeschlossene zu befreien, die man auf einer Bahre in die Turnhalle der Tescher Volksschule gebracht habe. Tappenbeck habe auch beim Löschen des Brandes in der katholischen Kirche und in der Pfarrwohnung des katholischen Pfarrers Pünder geholfen. Storch vermerkte, daß auch der evangelische Friedhof durch Bombenabwürfe stark verwüstet sei.

Beim Einzug der Amerikaner in Wuppertal am 14.4.1945 hätten auch noch einige Vohwinkeler ihr Leben lassen müssen, als amerikanische Artillerie quer durch die Stadt geschossen habe und Tiefflieger Straßen und Schienenstränge bestrichen hätten. Bei der Bergung der Leichen sei Frl. Dr. med. Heinze in der Rubenstraße bei den beiden Pastoren Hülsebus und Tappenbeck und deren Angehörigen tatkräftig unterstützt worden.

Am 16.4.1945 war dann - nach Angaben Storchs - der Krieg mit den Waffen für Wuppertal endgültig beendet, nachdem die Amerikaner auch Vohwinkel besetzt hatten.

 

Gauger berichtete in demselben Brief auch seine persönlichen Kindheitserlebnisse nach dem Kriegsende im Mai 1945:

"Doch kann ich nur sagen, daß die folgende Zeit im Chaos von Vohwinkel für mich zum Goldensten, Strahlensten und Schönsten gehört, was ich je erlebte. Es gab kein Wasser, und die Bewohner der unteren Bahnstraße mußten auf waghalsigen Wegen in den Steeler Einschnitt klettern, um an zwei Quellen in Kannen, Eimern und Töpfen Wasser zu holen. In langen Schlangen saßen die Leute geduldig auf den Eisenbahnschienen und warteten, bis sie an der Reihe waren. Wie aufregend für uns Kinder: so einfach auf die Gleise gehen, und niemand verbot es einem. In dem klaren Wasser der Abflußgräben rechts und links von den Schienen gab es Kaulquappen, Stichlinge, Bergmolche, Teichmolche, Wasserkäfer, Blutegel und Wasserschnecken - eine unvorstellbare Entdeckung für mich, die mich für Jahre dazu brachte, Tiere zu beobachten, nach Hause zu holen, zu züchten. Es gab kein Wasser aus dem Hahn, und viele Leute packten ihre Exkremente in alte Zeitungen und warfen sie aus dem Fenster, weil es keine Spülung gab. Die Tescher Treppe und viele andere Stellen waren vollgeschissen, daß man nur ganz vorsichtig gehen konnte. (Das blieb viele Jahre so.)

Aber war das eine schöne Zeit! Wir hatten Ausgebombte aufgenommen (oder aufnehmen müssen), die Familie eines alten Polizisten, Herrn Dillenberg von der Gruitener Straße, der einen gewaltigen Schnauzbart hatte. Wir liebten ihn sehr. Vor allem kannte er viele praktische Tricks - wie man Holz sammelte, Ähren las, etwas zimmerte. Er war beim Obsternten dabei. Wir gingen ins Osterholz, schleppten ganze Baumstümpfe (was verboten war) nach Hause und lernten, wie man sie kleinmacht, um Feuerholz zu haben. Oder wir mußten bei Kohlen-Kimmel anstehen, Ecke Kärntner Straße / Meraner Straße.

 

Die Natur blühte in dem Sommer auf wie eine Explosion! Auf den Lichtungen im Osterholz wimmelte es von Bergeidechsen. Das Osterholz lag voller Munition, und wir beschwätzten einen Engländer, der dort Wache hielt, uns die eine oder andere Munitionskiste zu überlassen, die wir zu Hause brauchten oder aus denen wir uns Terrarien bastelten. Die seltensten Schmetterlinge gab es in Menge: Schwalbenschwänze, Weinschwärmer, Ligusterschwärmer. Es hieß, daß in der Wupper, sobald die chemische Industrie kein Abwasser mehr hineinleerte, urplötzlich wieder Fische waren und in Solingen alte Leute ihr Angelzeug wieder vom Boden holten. Im Juli 1945 kam mein Vater aus kurzer Gefangenschaft wieder zurück, am 1. Oktober fing die Schule wieder an."

Gaugers Erinnerungen an die chaotische Zeit danach machen deutlich, daß zumindest die Kinder trotz aller Nöte und allen Entsetzens, trotz mancher Verluste und vieler Entbehrungen dieser schweren Nachkriegszeit auch gute Seiten abzugewinnen wußten. Sie sahen, wie Menschen näher zusammenrückten, wie fremde Leute jetzt miteinander Wohnraum teilen mußten und gemeinsam versuchten, das harte Leben zu meistern.

 

Copyright für den Text: Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln 1989.

Diesen Text und viele weitere Informationen finden Sie in:


Holger Ueberholz
Eine Gemeinde im Wiederaufbau
Die Probleme der evangelischen
Kirchengemeinde Vohwinkel nach 1945
Böhlau Verlag, Köln Wien: Böhlau 1989
ISBN 3-412-20788-8



Der Veröffentlichung des Textes auf dieser Webseite
hat freundlicherweise Herr Holger Ueberholz zugestimmt.

 

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